SPD-Reichstagsabgeordnete (bis 1933), Frauenrechtlerin, Sozialreformerin und Gründerin der Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Kindheit
Marie Juchacz (geb. Gohlke) wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski) geboren. Dort wuchs sie mit zwei Geschwistern (ihrem älteren Bruder Otto Gohlke und der jüngeren Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl, geb. Gohlke) und beiden Elternteilen in einem einfachen, liebevollen Zimmermannshaushalt auf. Sie besuchte eine einfache Volksschule, die sie mit 14 Jahren abschloss.
Berufs- und Familienleben
Sie arbeitete zunächst als Hausangestellte, dann in einer Netzfabrik, später als Krankenwärterin und lernte dann den Beruf der Schneiderin. Ihre Familie förderte ihre politische Bildung. Sie hatte früh ein starkes Interesse an der Frauen- und Friedenspolitik. 1903 heiratete sie den Schneidermeister Bernhard Juchacz, mit dem sie eine gemeinsame Werkstatt und eine Familie gründete. Die zwei Kinder Charlotte und Paul wurden 1903 und 1905 geboren. Nach der Geburt des zweiten Kindes trennte sich Marie Juchacz von ihrem Mann und zog 1906 nach Berlin.
Berlin und die Politik
Ihre Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl schloss sich ihr an. 1907 traten die beiden Frauen in die SPD ein und entwickelten sich zu beliebten Rednerinnen. Zunächst wohnten sie in Berlin bei ihrem Bruder Otto Gohlke und zogen nach der Hochzeit von Elisabeth und Gustav Röhl in eine gemeinsame Wohnung, zunächst nach Schöneberg und später nach Rixdorf, dem heutigen Berlin-Neukölln, wo sie Maries Kinder Charlotte und Paul sowie Fritz, den Sohn von Elisabeth und Gustav Röhl, gemeinsam aufzogen. Nach und nach wuchsen die zwei Schwestern in die politische Arbeit hinein. 1913 wurde Marie Juchacz als Sekretärin für Frauenfragen von der SPD-Führung in den damaligen Bezirk "Obere Rheinprovinz" nach Köln gerufen. Dort hielt sie Reden und versuchte von den Frauen zu erfahren, worum sich ihr Leben drehte, woran es ihnen fehlte und was sie von der SPD erwarteten. Elisabeth trennte sich von ihrem Mann und folgte Marie Juchacz mit den drei Kindern nach Köln. Dort schlossen sie sich mit Emil Kirschmann zusammen, den Elisabeth heiratete.
Erster Weltkrieg und die Heimarbeitszentrale
Zu Beginn des Erste Weltkriegs schlossen sich Marie Juchacz und Elisabeth Kirschmann-Röhl mit einigen ihrer Freundinnen u.a. Else Meerfeld den Aktionen und Hilfsprojekten der Nationalen Frauengemeinschaft in Köln an. Die Heimarbeitszentrale wurde entwickelt, in der Frauen (vor allem) aus gebrauchter Kleidung Wäsche für Soldaten nähten. Marie Juchacz leitete das Referat "Frauenbewegung, politische Frauenschulung, Organisation und Schulung eines Funktionärstabs". In ihren Aufgaben enthalten waren u.a. Referate in Versammlungen abzuhalten, Kurse einzurichten, Lehrtätigkeiten auszuführen und die Herausgabe der Monatszeitschrift für Funktionärinnen, "Die Genossin". Für diese und weitere Tätigkeiten ging Marie Juchacz von Friedrich Ebert berufen 1918 nach Berlin zurück.
Weimarer Republik
Elisabeth Kirschmann-Röhl wurde 1918 in Köln Stadtverordnete. 1919 wurden Marie Juchacz und ihre Schwester als zwei von 37 Frauen - nach Erlangung des Frauenwahlrechts - erstmals demokratisch von Männern und Frauen in die Nationalversammlung in Weimar gewählt. Am 19.Februar 1919 war Marie Juchacz die erste Parlamentarierin, die in der Weimarer Nationalversammlung an das Redepult trat. Ihr Vortrag begann mit den Worten "Meine Herren und Damen!" Es war ein historischer Moment. Immer wieder musste für Ruhe im Saal gesorgt werden, da sich die Herren mit Zwischenrufen und Kommentaren nicht zurückhielten. Sie waren es nicht gewohnt, Frauen im Parlament reden zu hören.
Gründung der Arbeiterwohlfahrt (AWO)
Am 13. Dezember 1919 gründete Marie Juchacz gemeinsam mit anderen Sozialdemokrat*innen die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mit Hauptsitz in Berlin. Mit der AWO wurde eine Organisation geschaffen, die Hilfe zur Selbsthilfe bieten sollte und keine Organisation sein wollte, die sich nicht allein auf die Herausgabe von Almosen organisieren wollte. Zahlreiche Einrichtungen verschiedener Art wurden aufgebaut.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus
1930, mitten im Wahlkampf verstarb Elisabeth Kirschmann-Röhl und eine Lücke wurde in das Leben von Marie Juchacz gerissen. Dennoch kämpfte Marie Juchacz weiter gegen die politischen Strömungen des Nationalsozialismus. Sie versuchte die Not zu lindern und Jugendlichen eine Alternative zum Sog des Nationalsozialismus anzubieten. Auch in ihren Reden warnte sie vor den Folgen, die das Bröckeln des mühsam aufgebauten Sozialstaates haben könnte. Mit der Machtergreifung der NSDAP wurde die Weimarer Republik ausgelöscht und Menschen, die sich wie Marie Juchacz gegen ihre Politik gestemmt hatten, waren nun in Lebensgefahr.
Marie Juchacz und Emil Kirschmann flohen aus ihrem Haus in Berlin-Köpenick über die "grüne Grenze" ins autonome Saargebiet. In Saarbrücken eröffnete Marie Juchacz einen Mittags- und Abendtisch für Geflüchtete und stellte Hilfsangebote in dem ihr möglichen Rahmen zusammen. Da die AWO in Saarbrücken noch bis 1935 funktionierte, konnte schnell ein funktionierendes Netzwerk geschaffen werden. Bei der Saarabstimmung 1935 fiel das Saargebiet wieder Deutschland zu. Mit einer kleinen politischen Gruppe aus Saarbrücken flohen Emil Kirschmann und Marie Juchacz weiter nach Frankreich. Die Gruppe formte eine Art "Kommune", erst in Forbach, dann bei Metz und Mühlhausen, bis sie einer Internierung nur knapp entkamen und dann in Sauvagnon, einem kleinen Dorf bei Pau mit Hilfe von Bauern untertauchten, bis Marie Juchacz, Emil Kirschmann und Käthe Fey 1941 per Schiff aus Europa über Martinique schließlich in Richtung New York fliehen konnten.
Im amerikanischen Exil
Nachdem die drei zunächst bei Emils Bruder in Meriden untergekommen waren, begann sie sich um Unterstützung zu kümmern. Die inzwischen 63-jährige Marie Juchacz konnte in einem Quäkerheim in West Branch, Iowa Englisch lernen und zog dann einige Monate später mit Emil Kirschmann und Käthe Fey nach New York in den Stadtteil Bronx in eine Dreizimmerwohnung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützten sie von New York aus den Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Deutschland mit Hilfssendungen und mit der Gründung der Arbeiterwohlfahrt New York, die dann Pakete an „Opfer des Nationalsozialismus“ nach Deutschland schickte. Sie stand zudem in einem regen Dialog per Brief mit Lotte Lemke in Hannover, die die Geschäftsführung der neuen Arbeiterwohlfahrt AWO übernahm.
Rückkehr nach Deutschland
1949 kehrte Marie Juchacz nach Deutschland zurück, unterstützte dort die Frauenbewegung und die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mit ihrem Knowhow und trug damit dazu bei, eine Lücke zu füllen, die über die Jahre des Versteckens und des mangelnden Austauschs durch den Zweiten Weltkrieg in die Reihen der Sozialdemokrat*innen gerissen worden war. Marie Juchacz verstarb am 28. Januar 1956 in Düsseldorf. Ihre Grabstätte, in der sie mit ihrer Schwester und Emil Kirschmann wieder vereint wurde, befindet sich auf dem Kölner Südfriedhof und zählt zu den denkmalgeschützten Ehrengräbern.